Manchmal steckt hinter „schwierigem Verhalten“ etwas Tieferes
Manchmal verhalten sich Kinder auf eine Weise, die Erwachsene ratlos macht. Sie schreien, werden wütend, stoßen andere weg oder ziehen sich völlig zurück.
Wir versuchen, Grenzen zu setzen, Regeln zu erklären, Geduld zu haben und doch scheint nichts zu helfen.
Was wir dabei oft übersehen oder nicht verstehen: Verhalten ist nie zufällig. Es ist ihre Sprache. Ihre Art mit Erwachsenen zu kommunizieren.
Eine Geschichte, die der Körper erzählt, wenn Worte (noch) fehlen.
Die Geschichte von Sammy
Susi hat einen Sohn namens Sammy. Er ist neun Jahre alt. Susi sucht Hilfe, weil das Verhalten ihres Sohnes sehr schwierig ist und Lehrerinnen sowie andere Eltern den Wunsch geäußert haben, dass sich etwas ändern müsse.
Sammy ist intensiv in seinem Auftreten: Er hat emotionale Ausbrüche, reagiert aggressiv auf kleinste Frustrationen, hat keine Freunde, ist laut und wild.
Susi ist besorgt und erschöpft; sie versucht alles, aber nichts scheint zu helfen.
Auf Nachfrage beschreibt sie einen täglichen Kampf mit seinen Stimmungen, Wutanfällen und seiner fehlenden Konzentration. Ihr Wunsch ist, dass dieser Albtraum einfach endet.
Sie hatte sich so sehr ein Kind gewünscht doch jetzt, mit Sammy, denkt sie oft darüber nach, wie ihr Leben ohne ihn wäre.
Ein schwieriger Start ins Leben
Sammys Start ins Leben war von Beginn an herausfordernd.
Die Schwangerschaft war von erheblichem Stress geprägt: Susi befand sich in einer emotional missbräuchlichen Beziehung mit Sammys Vater.
Während der gesamten Schwangerschaft fühlte sie sich häufig ängstlich und überfordert, kämpfte um Stabilität, berichtete von hohen Stresswerten und erlebte im zweiten Trimester vorzeitige Wehen. Sie musste ins Krankenhaus und wurde dort behandelt.
Trotz aller Bemühungen kam Sammy in der 32. Woche zu früh zur Welt.
Er wurde per Kaiserschnitt geboren und kam sofort auf die neonatologische Intensivstation (NICU), wo er darum rang, ohne Hilfe zu atmen.
Seine Mutter sah ihn erst zehn Stunden nach der Geburt und durfte ihn anschließend nur für kurze Zeit täglich besuchen.
Sammy hatte mehrere gesundheitliche Komplikationen, bis er acht Wochen später nach Hause durfte.
Eine Umgebung voller Anspannung
Zuhause war Sammy zwar rund um die Uhr bei seiner Mutter, doch sein Vater war meist abwesend und wenn er da war, oft laut, unberechenbar und schreiend.
Susi war guten Willens, aber innerlich erschöpft. Sie rang damit, beständige emotionale Unterstützung zu geben.
Die ständige Anspannung zu Hause, Susis Angst und depressive Phasen führten dazu, dass Sammy häufig Streit, Anschreien und das Werfen von Gegenständen miterlebte.
Mit einem Jahr kam Sammy in die Krippe Montag bis Freitag, von acht bis siebzehn Uhr, da beide Eltern arbeiteten.
In der Betreuung war er der Jüngste. Ein älterer Junge ärgerte ihn regelmäßig: nahm ihm Dinge weg, machte sich über ihn lustig, schubste ihn.
Sammy lernte, sich an ein Umfeld anzupassen, das nicht willkommen heißend oder nährend war, sondern überfordernd, laut und kühl.
Sein sich entwickelndes Gehirn hätte sich eigentlich von der Zeit auf der Intensivstation erholen sollen.
Stattdessen musste er sich in einer Welt behaupten, in der Sicherheit und Ruhe unbeständig waren.
Ein Körper im Alarmzustand
Als Kleinkind wurde Sammy hypervigilant(1) hyperwachsam.
Er war ständig auf der Hut, erwartete die nächste Störung oder den nächsten Ausbruch.
Er zeigte Anzeichen einer unsicheren Bindung: klammerte sich an seine Mutter, zeigte aber Angst und Unruhe, selbst wenn sie ihn beruhigen wollte.
Dieses Muster setzte sich fort.
In der Schule begann Sammy, in sozialen Situationen zu „kämpfen“.
Er suchte verzweifelt nach Nähe, oft durch übermäßige Annäherungsversuche oder ständige Bestätigungssuche – immer auf der Suche nach einem Gefühl von Sicherheit.
Doch niemand verstand sein Verhalten.
Jede Zurückweisung verstärkte seine Angst vor Verlassenwerden.
Er reagierte aggressiver, lauter, überforderter.
Lehrkräfte stellten fest, dass es Sammy schwerfiel, Routinen einzuhalten, stillzusitzen und Grenzen zu akzeptieren.
Er war schnell frustriert, überreizt vom Lärm im Klassenraum und gleichzeitig selbst laut.
Kein „böses Verhalten“ sondern Ausdruck innerer Not
Sammys Verhalten ist nicht einfach „schlechtes Benehmen“.
Es ist Ausdruck seiner Geschichte.
Der Stress vor und während der Geburt, die frühe Trennung, die emotionale Unsicherheit all das hat Spuren in seinem Nervensystem hinterlassen.
Kinder wie Sammy reagieren nicht „gegen“ Erwachsene sie reagieren auf das, was sie einmal erlebt haben.
Sie haben ein hochaktiviertes Stresssystem, eine überempfindliche Alarmanlage im Körper.
Ihr Gehirn hat gelernt, schneller Gefahr zu wittern, weil es einst notwendig war.
Wenn das System versagt
In der Schule isolieren ihn seine Schwierigkeiten in der Emotionsregulation und seine mangelnden Sozialkompetenzen zusätzlich.
Verhaltensweisen, die in einem chaotischen häuslichen Umfeld funktional waren, wirken im Klassenzimmer unpassend.
Lehrkräfte und Gleichaltrige nehmen ihn als „schwierig“ oder „aggressiv“ wahr was seine Gefühle von Ausgrenzung weiter verstärkt.
Sammys Fall zeigt, wie eine Kombination früher Kindheitserfahrungen die Fähigkeit eines Kindes formt, sich adaptiv anzupassen.
Um Sammy zu helfen, müsste man seine Geschichte verstehen nicht nur sein Verhalten beurteilen.
In den meisten Fällen jedoch bekommen Kinder wie Sammy und ihre Eltern nicht die richtige Unterstützung.
Das System greift erst ein, wenn es fast zu spät ist. Dann, wenn alles eskaliert.
Was wir von Sammy lernen können
Sammy ist kein „schwieriges Kind“.
Er ist ein Kind, das schwierige Erfahrungen gemacht hat.
Ein Kind, dessen Körper und Nervensystem früh gelernt haben, in Alarmbereitschaft zu leben, weil Sicherheit nie selbstverständlich war.
Was Sammy braucht, ist kein härteres Durchgreifen, keine Strafe und keine Diagnose, die ihn definiert.
Er braucht Menschen, die seine Geschichte sehen, die verstehen, warum er so reagiert, und die ihm helfen, neue Erfahrungen von Sicherheit zu machen.
Menschen, die erkennen: Verhalten ist Sprache. Und jedes Verhalten erzählt etwas über das, was einmal gefehlt hat.
Doch es geht hier nicht nur um Sammy.
Es geht um ein System, das Eltern wie Susi oft allein lässt bis alles eskaliert.
Es geht um LehrerInnen, die täglich ihr Bestes geben, aber kaum Werkzeuge haben, um mit solchen Situationen traumasensibel umzugehen.
Und es geht um eine Gesellschaft, die noch immer zu spät reagiert, anstatt früh zu unterstützen.
Wir investieren Unsummen, wenn etwas zerbrochen ist aber kaum etwas, um „Zerbrechen“ zu verhindern.
Was wäre, wenn wir beginnen würden, früher hinzuschauen?
Wenn Schwangere in belasteten Situationen automatisch emotionale Begleitung bekämen? Oder generell jede Schwangere und werdenden Eltern eine psychosoziale Begleitung und Elternbildung erhalten würden?
Wenn Kindergärten und Schulen Räume wären, in denen Bindung, Regulation und Beziehung genauso wichtig sind wie Leistung?
Wenn wir aufhören würden, Kinder zu „reparieren“, und stattdessen verstehen, was sie uns über ihre Welt erzählen?
Sammy steht für viele Kinder.
Und vielleicht auch für das verletzte Kind in uns selbst, das nie ganz gesehen wurde.
Indem wir beginnen, Geschichten zu verstehen statt zu verurteilen, verändern wir nicht nur Sammys Zukunft
sondern die vieler anderer.
(1)Hypervigilant (hyperwachsam) beschreibt einen Zustand extremer, erhöhter Wachsamkeit und Aufmerksamkeit gegenüber potenziellen Bedrohungen in der Umgebung(die Amygdala ist hier hoch Aktiv). Haben ständige Angst, reagieren über, sind schreckhaft und haben eine extreme Sensibilität für ihre Umwelt. Dieser Zustand ist häufig ein Symptom von psychischen Störungen wie posttraumatischer Belastungsstörung (PTBS) und Angstzuständen